Raser haben die Strassen übernommen. Stimmt nicht! (FACTS)
Verfasst: 14 Okt 2004, 08:19
FACTS 42/2004,14.10.04
Schweiz
13.10.2004
Vorschnelles Urteil
Raser haben die Strassen übernommen. Stimmt nicht. Die Zahl der Unfälle geht kontinuierlich zurück. Doch welche Massnahmen greifen bei den krassen Fällen von Tempobolzerei?
Leo Ferraro, Christoph Zimmer
Bloss drei Tage brauchte die Bündner Kantonspolizei Anfang Oktober, und sie hatte 766 Automobilisten wegen Geschwindigkeitsübertretungen gebüsst oder verzeigt. Ein Raserproblem? Davon will man im Bündnerland nichts wissen. Hier gebe es kaum Raser und eine typische Raserstrecke schon gar nicht, sagt Alois Hafner, Infochef der Kantonspolizei. Aus diesem Grund seien auch keine besonderen Massnahmen notwendig. Hafner erkennt dennoch Handlungsbedarf. Er schlägt eine Rennstrecke vor, auf welcher «quirlige Schnellfahrer» im Selbsttest Risiken und Gefahren des Schnellfahrens einzuschätzen lernen.
Das Beispiel zeigt, wie breit das Wahrnehmungsspektrum in der aktuellen Debatte um Tempobolzer ist. Eine Umfrage bei den Deutschschweizer Polizeikorps ergibt: Nicht einmal die Polizei weiss, wovon sie reden soll. Die «quirligen Schnellfahrer », wie sie die Bündner nennen, heissen in anderen Kantonen «Raser», denen die «Tatwaffe Auto» entzogen werden muss und die unbedingt ins Gefängnis gesteckt gehören. Das gleiche Bild bei der Frage nach Raserstrecken. Während einzelne Korps detaillierte Karten abgeben, sind in anderen Kantonen «keine typischen Raserstrecken bekannt». Die Kantonspolizei Bern wiederum stellt fest, dass auf allen breiten, geraden Strassen mit lang gezogenen Kurven gerast wird.
Die Polizei sieht sich unter Druck. Tempobolzer waren in den letzten Wochen das Thema Nummer eins in den Zeitungen und Nachrichtensendungen. Insgesamt erschienen im September 2004 viermal mehr Artikel über das Phänomen als im gleichen Monat des Vorjahres. Anlass für die Aufregung waren die Aussagen des Vorzeige-Rasers Amir in der Sendung «Rundschau» und andere besonders spektakuläre Fälle.
Zum Beispiel der 23-jährige Schweizer, der bei einem Rennen am 27. Dezember 2002 beim Autobahnkreuz Zürich-Nord ein Polizeiauto überholte – mit 194 statt der erlaubten 80 Stundenkilometer. In einem Pilotprozess schickte das Zürcher Bezirksgericht den Täter nun für 18 Monate ins Gefängnis und ordnete den Einzug seines geleasten BMW an. Obwohl niemand zu Schaden kam. Mit dem wegweisenden Urteil setzt die Justiz neue Massstäbe in Sachen Repression. Tatsache aber ist: Die Zahl der «Unfälle mit möglichem Geschwindigkeitseinfluss» ist seit langem rückläufig. Von 8077 im Jahr 1990 sank sie auf 6467 im Jahr 2003. Das zeigt die Statistik des Bundesamtes für Unfallverhütung (BfU). Noch deutlicher fällt der Rückgang bei den Unfällen mit Schwerverletzten auf. Diese nahmen im gleichen Zeitraum von 3279 auf 1525 ab.
Auch die Anzahl Todesfälle wegen Raserei halbierte sich nahezu. Eine deutliche Zunahme verzeichnen die Polizeikorps lediglich bei den besonders krassen Fällen von Raserei. Und die gilt es zu bekämpfen. Doch wann ist ein Schnellfahrer ein Raser? Ab welchem Tempo wird die Übertretung zum Exzess? Anita Panzer von der Kantonspolizei Solothurn ist der Meinung, Rasen müsse «je nach Situation diskutiert und beurteilt werden». Die Kantonspolizei Luzern definiert den Raser als jemanden, «der mit massiv übersetzter Geschwindigkeit eine Drittgefährdung in Kauf nimmt» und damit «eventualvorsätzlich» handelt. Das gelte nicht für jede Geschwindigkeitsübertretung.
Die Kantonspolizei Thurgau stellt fest, dass «auf einigen Redaktionen zurzeit bei Geschwindigkeitsübertretungen schnell der Begriff ‹Raser› ins Spiel kommt», obwohl die Zahl der «Unfälle stagniert oder abnimmt». Die veränderte Optik hat für die Polizei auch positive Aspekte. «Es werden mehr Kontrollen verlangt, und die Medien schreiben auch weniger von ‹Radarfallen›», konstatiert Claudia Truttmann von der Zuger Polizei. «Wir sind keine Fallensteller.» Als Verkehrsminister Leuenberger die «Vision Zero» zur Reduktion der Anzahl Strassenverkehrsopfer vorstellte, provozierte der «Blick» mit dem Titel: «Warum nicht gleich Tempo 0?» Selbst FACTS gab unter dem Titel «Radar-Wettrüsten» noch vor vier Jahren detaillierte Tipps, mit welchen technischen Geräten sich die Kontrollen der Polizei austricksen lassen. Heute läge ein solcher Beitrag schief. Während sich Politiker und Medien mit Vorschlägen zur Lösung der Raserproblematik überbieten, setzt die Polizei in erster Linie auf Repression.
Die effizienteste Massnahme gegen Geschwindigkeitsübertretungen seien «möglichst viele Kontrollen», ist Meinrad Stöcklin, Mediensprecher der Kantonspolizei Baselland, überzeugt. Das gehe nur mit mehr Personal. Als Ergänzung zur verstärkten Repression setzen die Kantone auf Vorbeugung wie der Kanton Luzern mit seinem Drei-Säulen-Konzept «Instruktion – Prävention – Repression». Das Konzept sieht Verkehrsunterricht, eine «harte und konsequente Praxis bei Führerausweisentzügen» und Präventionsaktionen wie die Kampagne «Raser verlieren Freunde» vor.
Mit dieser Art von Öffentlichkeitsarbeit will beispielsweise der Sankt-Galler Verkehrspolizei- Chef Peter-Martin Meier erreichen, dass «schnelles und waghalsiges Fahren nicht mehr als Heldentat angesehen, sondern tendenziell stigmatisiert wird». Genauso wie Alkohol am Steuer.
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Schweiz
13.10.2004
Vorschnelles Urteil
Raser haben die Strassen übernommen. Stimmt nicht. Die Zahl der Unfälle geht kontinuierlich zurück. Doch welche Massnahmen greifen bei den krassen Fällen von Tempobolzerei?
Leo Ferraro, Christoph Zimmer
Bloss drei Tage brauchte die Bündner Kantonspolizei Anfang Oktober, und sie hatte 766 Automobilisten wegen Geschwindigkeitsübertretungen gebüsst oder verzeigt. Ein Raserproblem? Davon will man im Bündnerland nichts wissen. Hier gebe es kaum Raser und eine typische Raserstrecke schon gar nicht, sagt Alois Hafner, Infochef der Kantonspolizei. Aus diesem Grund seien auch keine besonderen Massnahmen notwendig. Hafner erkennt dennoch Handlungsbedarf. Er schlägt eine Rennstrecke vor, auf welcher «quirlige Schnellfahrer» im Selbsttest Risiken und Gefahren des Schnellfahrens einzuschätzen lernen.
Das Beispiel zeigt, wie breit das Wahrnehmungsspektrum in der aktuellen Debatte um Tempobolzer ist. Eine Umfrage bei den Deutschschweizer Polizeikorps ergibt: Nicht einmal die Polizei weiss, wovon sie reden soll. Die «quirligen Schnellfahrer », wie sie die Bündner nennen, heissen in anderen Kantonen «Raser», denen die «Tatwaffe Auto» entzogen werden muss und die unbedingt ins Gefängnis gesteckt gehören. Das gleiche Bild bei der Frage nach Raserstrecken. Während einzelne Korps detaillierte Karten abgeben, sind in anderen Kantonen «keine typischen Raserstrecken bekannt». Die Kantonspolizei Bern wiederum stellt fest, dass auf allen breiten, geraden Strassen mit lang gezogenen Kurven gerast wird.
Die Polizei sieht sich unter Druck. Tempobolzer waren in den letzten Wochen das Thema Nummer eins in den Zeitungen und Nachrichtensendungen. Insgesamt erschienen im September 2004 viermal mehr Artikel über das Phänomen als im gleichen Monat des Vorjahres. Anlass für die Aufregung waren die Aussagen des Vorzeige-Rasers Amir in der Sendung «Rundschau» und andere besonders spektakuläre Fälle.
Zum Beispiel der 23-jährige Schweizer, der bei einem Rennen am 27. Dezember 2002 beim Autobahnkreuz Zürich-Nord ein Polizeiauto überholte – mit 194 statt der erlaubten 80 Stundenkilometer. In einem Pilotprozess schickte das Zürcher Bezirksgericht den Täter nun für 18 Monate ins Gefängnis und ordnete den Einzug seines geleasten BMW an. Obwohl niemand zu Schaden kam. Mit dem wegweisenden Urteil setzt die Justiz neue Massstäbe in Sachen Repression. Tatsache aber ist: Die Zahl der «Unfälle mit möglichem Geschwindigkeitseinfluss» ist seit langem rückläufig. Von 8077 im Jahr 1990 sank sie auf 6467 im Jahr 2003. Das zeigt die Statistik des Bundesamtes für Unfallverhütung (BfU). Noch deutlicher fällt der Rückgang bei den Unfällen mit Schwerverletzten auf. Diese nahmen im gleichen Zeitraum von 3279 auf 1525 ab.
Auch die Anzahl Todesfälle wegen Raserei halbierte sich nahezu. Eine deutliche Zunahme verzeichnen die Polizeikorps lediglich bei den besonders krassen Fällen von Raserei. Und die gilt es zu bekämpfen. Doch wann ist ein Schnellfahrer ein Raser? Ab welchem Tempo wird die Übertretung zum Exzess? Anita Panzer von der Kantonspolizei Solothurn ist der Meinung, Rasen müsse «je nach Situation diskutiert und beurteilt werden». Die Kantonspolizei Luzern definiert den Raser als jemanden, «der mit massiv übersetzter Geschwindigkeit eine Drittgefährdung in Kauf nimmt» und damit «eventualvorsätzlich» handelt. Das gelte nicht für jede Geschwindigkeitsübertretung.
Die Kantonspolizei Thurgau stellt fest, dass «auf einigen Redaktionen zurzeit bei Geschwindigkeitsübertretungen schnell der Begriff ‹Raser› ins Spiel kommt», obwohl die Zahl der «Unfälle stagniert oder abnimmt». Die veränderte Optik hat für die Polizei auch positive Aspekte. «Es werden mehr Kontrollen verlangt, und die Medien schreiben auch weniger von ‹Radarfallen›», konstatiert Claudia Truttmann von der Zuger Polizei. «Wir sind keine Fallensteller.» Als Verkehrsminister Leuenberger die «Vision Zero» zur Reduktion der Anzahl Strassenverkehrsopfer vorstellte, provozierte der «Blick» mit dem Titel: «Warum nicht gleich Tempo 0?» Selbst FACTS gab unter dem Titel «Radar-Wettrüsten» noch vor vier Jahren detaillierte Tipps, mit welchen technischen Geräten sich die Kontrollen der Polizei austricksen lassen. Heute läge ein solcher Beitrag schief. Während sich Politiker und Medien mit Vorschlägen zur Lösung der Raserproblematik überbieten, setzt die Polizei in erster Linie auf Repression.
Die effizienteste Massnahme gegen Geschwindigkeitsübertretungen seien «möglichst viele Kontrollen», ist Meinrad Stöcklin, Mediensprecher der Kantonspolizei Baselland, überzeugt. Das gehe nur mit mehr Personal. Als Ergänzung zur verstärkten Repression setzen die Kantone auf Vorbeugung wie der Kanton Luzern mit seinem Drei-Säulen-Konzept «Instruktion – Prävention – Repression». Das Konzept sieht Verkehrsunterricht, eine «harte und konsequente Praxis bei Führerausweisentzügen» und Präventionsaktionen wie die Kampagne «Raser verlieren Freunde» vor.
Mit dieser Art von Öffentlichkeitsarbeit will beispielsweise der Sankt-Galler Verkehrspolizei- Chef Peter-Martin Meier erreichen, dass «schnelles und waghalsiges Fahren nicht mehr als Heldentat angesehen, sondern tendenziell stigmatisiert wird». Genauso wie Alkohol am Steuer.
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